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Meine Gedanken zum Gedicht "Ein Gebet"

 

 

 

Wie Worte wirken

Worte haben Macht. Wer benennen kann, der verfügt in gewisser Weise über das Benannte.

Umgekehrt ist das Namenlose so unbegreiflich „unbegreifbar“. Und mächtig.

 

Diese Erkenntnis macht sich das Rumpelstilzchen zunutze. Es kann die Königin so lange plagen, bis sie seinen Namen erfährt und nennt; und plötzlich ist seine Macht gebrochen. Doch nicht nur im Märchen begegnet uns dieses Phänomen.

 

Mit jeder Diagnose, die ein Arzt stellt, wird einer Krankheit ein Name gegeben. Der Patient war vielleicht so lange in Angst, solange er nicht sagen konnte, was denn mit seinem Körper nicht stimmte. Nun gibt der Arzt dem Patienten ein Wort an die Hand, das er benutzen kann, um sein Leiden zu benennen. Unabhängig von der Schwere der Diagnose oder den Therapiemöglichkeiten gibt dieses Wort dem Patienten etwas von der verlorenen Sicherheit zurück.

 

Wer benennen kann, hat das Benannte in gewisser Weise im Griff.

 

Eine plastische Darstellung dieser Kraft liefern Berichte über Dämonen-Austreibungen. So wird erzählt, dass der Exorzist den Namen des Dämons wissen und nennen muss, damit der unreine Geist ausfährt.

 

Während sich die Geister in diesen (seltsamen?) Berichten bedeckt halten wollen und ihre Macht aus dem Dunkeln der Namenlosigkeit holen, ist es spannend zu lesen, wie sich der Gott des Lichts seinem Volk offenbart. Bleibt er mystisch und ungreifbar?

 

Nein, er nennt Mose am brennenden Dornbusch einen Namen. Jahwe. Mit diesem „Begriff“ gibt sich Gott (sprachlich gesehen) in unsere Hände. Doch gleichzeitig entzieht er sich wieder unserem Griff. Denn auf unsere Frage „Wer bist du?“ antwortet er: „Ich bin, der ich bin“ (Ex. 3,14). Dieser Name ist Programm: Der „Ich bin“ ist ein greifbarer Gott, der unbegreiflich bleibt.

 

 

Das Spannungsfeld

Diese Ãœberlegungen bilden den einen Pol: Worte und deren Macht zu benennen und zu unterscheiden von Dingen; so klar, so nüchtern, so ordnend. 
Den Gegenpol bildet meine große Sehnsucht, nicht nur zu herrschen, sondern auch in meinem Kopf, in meiner Sprache, beherrscht zu werden. Das macht die Begeisterung. Denn wo sich Begeisterung breit macht, werden alte Ordnungen im  Denken gesprengt. Wenn meine Worte, die doch so schön kategorisieren konnten und mit denen ich die Macht eines Sachbearbeiters über seine Ordner hatte, plötzlich nicht mehr ausreichen, wenn ich keine Worte mehr finde, dann verliere ich ein Stück meiner alten Kontrolle. Und gibt es etwas Schöneres, als absolut sprachlos zu sein?
Wenn ich verzweifelt nach Worten suche, die meine Emotionen fassen könnten, schließlich aber völlig kapituliere – dieses Jubeln, dieses Lachen ist Begeisterung, um die ich bete.

Ich bin überzeugt, dass jede einzelne Eigenschaft meines Gottes und jeder Lichtstrahl, der von ihm ausgeht, das Potential hat, mich dahin zu führen. Meine Gedanken „nach oben“ (Vers 6) in seine Sphären zu reißen.
 

Zwischen begreifen und begeistert sein

Wie komme ich dahin? Ich weiß, dass ohne Erkenntnis keine Begeisterung kommen kann. Wo Menschen etwas mehr von Gottes unendlicher Weisheit oder Herrlichkeit erfahren haben, dort haben sich Begeisterungsfontänen Bahn gebrochen. Wo Menschen begriffen haben, wer dieser Gott ist, wurden sie von der Begeisterung ergriffen.
Ich will auch begreifen! Doch meine persönlichen Erfahrungen sehen eher so aus: Ich begreife etwas Neues; doch statt ergriffen zu sein, greife ich zu Begriffen. Was ist ein Begriff? Ein Werkzeug, mit dessen Hilfe ich die Kontrolle über alles Neue, Begeisternde bekomme. Mit dessen Hilfe ich ein Flussbett graben kann, um einen ordentlichen Sprachfluss zu gewährleisten.
Und die Begeisterung, die doch explosiv zersprühen und mich sprachlos machen sollte „säuselt seicht“ (Vers 4). 

 

Begeisterung und Dichtung

Eines weiß ich: Wenn dieses Gebet  in Erfüllung geht, dann wird kein Gedicht entstehen. Zumindest nicht gleich. Nicht solange Emotionen nicht „heißen“, sondern erlebt werden.
Denn Begeisterung versprüht – Gedichte verdichten. Die Bewegungsrichtung ist entgegengesetzt. 
Davon zeugt nicht nur die sorgfältige Wahl der Worte beim Verfassen dieses Gedichts. Auch die elf Reimpaare, die sich z.T. über mehrere Verse hinweg finden, halten gemeinsam mit der großen Klammer (die identischen Verse 1 und 11) das Gedicht kompakt zusammen.
Und im Kern dieser engen Schnürung (in der mittleren Strophe) findet sich die Rede von der Begeisterung, die Rahmen sprengt. Dieser Gegensatz von äußerer Form und Inhalt ist der Gegensatz von ordentlicher Realität und Sehnsucht nach Fontänen, in dem ich lebe. Und Worte finde zum Gebet.

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