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Die Sünder, der Tote, ich

 

 

Gedicht zum Karfreitag.
 

 

Wir sind nicht dabei gewesen. – 
Wenn wir von dem Leiden lesen,
wenn wir uns die Qualen
vor Augen malen,
die Jesus litt,
schwingt vielleicht das Denken mit:
Grausam genug, davon zu lesen –
zum Glück bin ich nicht dabei gewesen!
 
Nein, ich war es nicht, der schlief,
als Jesus weinend zum Vater rief.
Mein Mund hat ihn nicht geküsst.
Als die Schar geflohen ist,
ist mein Fuß nicht weggerannt.
Den Nagel hielt nicht meine Hand
und die Spucke in seinem Gesicht –
meine war es sicher nicht.
 
Ich war damals nicht dabei.
So spreche ich mich heimlich frei
und tauche zum wiederholten Male
meine Hände in Pilatus‘ Schale.
 
Oh Herr, lass uns verstehn:
Wenn wir im Geist nach Golgatha gehn,
dann ist das für uns kein fremder Ort,
denn unser Herz war damals dort.
Was sie dir taten zeigt uns nur
die schwarze Bosheit unsrer Natur.
Was wir getan hätten – genau das taten sie.
Wir haben, Herr, kein Alibi.
 
Auch ich hänge oft, wie Judas, am Geld.
Wie Markus entreiß‘ ich mich dem, der mich hält,
denn ich schäm‘ mich zu leiden und bin lieber nackt.
Wie die Jünger lauf ich, wenn die Panik mich packt.
Ich fürchte die Menschen, wie Pilatus es tat.
Ich begehe, wie Petrus, an Jesus Verrat.
Wie die Frauen am Wege bin ich dafür blind
wie bedauernswert verlorene Menschen sind.
Es steht auch meiner Natur entgegen,
Jesu Kreuz auf mein Kreuz zu legen
und wie Simon aus Kyrene muss man mich zwingen
meine trägen Schultern zum Tragen zu bringen.
Und noch viel weiter geht die Liste der Sünden,
die wir in uns und in ihnen finden,
die uns in die Rolle der Schuldigen bringen,
weil sie den Zorn des Gerechten erzwingen.
Jeder, der jene Sünden kopiert,
wird auch als Sünder identifiziert.
 
Mit den Bösen können wir uns vergleichen –
doch wer kann dem Mann am Kreuz das Wasser reichen?
Zu diesem hat sich Gott bekannt 
und hat ihn seinen Sohn genannt.
An dem einzigen Menschen mit reinem Gewissen
hat sich der Satan die Zähne ausgebissen.
Doch völlig schuldlos lässt er sich ächten
und übergibt sich selbst uns Folterknechten
Aus Liebe will er am Kreuz krepieren!
Wer kann sich mit ihm identifizieren?
Er ist ja ohne Sünde gewesen…
 
Doch in der Bibel können wir lesen:
Für mich wurde er am Kreuz zur Sünde,
damit ich Sünder mich dort wiederfinde.
Damit der Mensch, die Otternbrut, versteht:
Er ist die Schlange, in der Wüste erhöht.
 
Wie komme ich zur Identifikation
mit dem allmächtigen Gottessohn?
 
Er verkörpert mein Fleisch voller Stolz
und lässt sich vernichten am schrecklichen Holz.
 
Herr, wenn ich im Geist nach Golgatha gehe
und dich dort gekreuzigt sehe,
dann sehe ich mein altes Leben.
Und wenn Judas und Petrus mir Anlass geben,
mich mit ihnen zu identifizieren,
dann willst du mich doch zum Kreuz hin führen,
denn hier geht die Geschichte zu Ende:
Ich hab befleckte, du durchbohrte Hände.
Ich müsste sterben, doch du bist gestorben.
Du hast dem Kläger die Klage verdorben.
Du sahst: Ich kann dich niemals erreichen,
dann wurdest du Sünde, um mir Sünder zu gleichen.
Durch die Nägel ist die Sünde entkräftet,
denn sie haben dich, Sünde, ans Kreuz geheftet.
 
Wo ist ein Kläger, der mich jetzt noch bedrängt?
Ich habe mein Fleisch an den Nagel gehängt!
Hier darf ich mein altes Wesen verlieren,
das heißt, mit dem Toten identifizieren.
Doch so, wie Jesus aufersteht,
bekomm ich eine neue Identität.
 
Gekreuzigter, durch den ich zu leben begann –
ich werfe mich nieder und bete dich an.

 

 

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